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Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte Ludwig Roselius immer wieder von der Notwendigkeit einer neuen Nationalkultur, einer „starken Kultur“ des „nordischen Menschen“ gesprochen und 1927 bei Einweihung des Museums zu Ehren Paula Modersohn-Beckers die Künstlerin zu einer „Heiligen“ erklärt, im Sinne eben dieser geforderten neuen nationalen Identität. Es waren der verlorene Krieg und die verlorene Ehre, die ihm bleibende Makel und eine tiefe Sinnkrise hinterlassen hatten. Schöpferischer Geist, so Roselius, sei eine zutiefst deutsche Angelegenheit und fordere gleichsam heraus, danach das gesamte kulturelle Leben neu auszurichten. „Wir müssen uns deshalb in unserem eigenen Volkstum verankern und den deutschen Geist unzerstörbar machen.“ Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstraße, Bremen 1932, S. 17. Hinter solchen Gedanken stehen merkwürdige Ausschlusskriterien, etwa, dass andere Nationen, vor allem die romanischen, dem germanischen Geist stets unterlegen wären, dass Amerika erst aus dem „niederdeutschen Geist“ erschaffen worden sei usw., dass es letztlich auch in seinem Bremer Großprojekt darum gehe, diese Überzeugung unmissverständlich und unwiderlegbar zu machen. „Die Wiedererrichtung der Böttcherstraße ist ein Versuch, deutsch zu denken. Das, was nach dem Kriege bei uns an starken Heimatgedanken in der Luft lag, soll dort festgehalten werden.“Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstraße, Bremen 1932, S. 19.
- „Wir müssen uns deshalb in unserem eigenen Volkstum verankern und den deutschen Geist unzerstörbar machen.“ Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstraße, Bremen 1932, S. 17.
- „Die Wiedererrichtung der Böttcherstraße ist ein Versuch, deutsch zu denken. Das, was nach dem Kriege bei uns an starken Heimatgedanken in der Luft lag, soll dort festgehalten werden.“Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstraße, Bremen 1932, S. 19.
Die Konzeption eines sog. „Väterkundemuseum“ schien also spätestens mit der Errichtung des HAG-Hauses 1926 virulent und stand vielleicht damals schon als Abschluss des Gesamtprojekts fest: „die Herkunft und Kultur des nordischen Menschen soll dargelegt werden“, um zu beweisen, „daß wirklich große Kunst von den Germanen stammt. Das ist nicht Dünkel und Voreingenommenheit, das ist, wenigstens für mich und viele meiner Freunde seit langen Jahren unerschütterlicher Glaubenssatz. Dieser beruht, hervorgegangen aus dem Studium der Dinge, auf einer sicheren und faßbaren Unterlage“.Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstraße, Bremen 1932, S. 21.
In den späten 1920er Jahren hatte Roselius eine entsprechend umfängliche Sammlung „Väterkunde“, die etwa 35 000 Objekte umfasste, anlegen lassen und Hans Müller-Brauel als Museumsleiter zu Ankäufen vermeintlich geeigneter prähistorischer Objekte auf Reisen quer durch Europa geschickt. Danach schien es ihm geboten, für die im Obergeschoss HAG-Hauses untergebrachten Bestände ein eigenes Museum zu errichten, das die gesamte Neugestaltung der Böttcherstraße abschloss. In einem 1930 erschienenen Führer Ludwig Roselius, Die Vollendung der Böttcherstraße. In: Albert Theile, Die Böttcherstraße in Bremen, Idee und Gestaltung. Bremen 1930, S. 52. durch die Straße heißt es: „Die Sammlung Väterkunde enthält ein paar gute Stücke prähistorischer Funde, diese sollen eines Tages den Grundstock bilden für das Haus der Väter, welches die Geschichte der germanischen Menschheit darstellen soll.“ und: „Nur durch einen Neubau läßt sich die Aufgabe lösen. Seine Pläne sind fertiggestellt, der Bau ist begonnen.“Ludwig Roselius, Die Vollendung der Böttcherstraße. In: Albert Theile, Die Böttcherstraße in Bremen, Idee und Gestaltung. Bremen 1930, S. 52.
- Dieser beruht, hervorgegangen aus dem Studium der Dinge, auf einer sicheren und faßbaren Unterlage“.Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstraße, Bremen 1932, S. 21.
- 1930 erschienenen Führer Ludwig Roselius, Die Vollendung der Böttcherstraße. In: Albert Theile, Die Böttcherstraße in Bremen, Idee und Gestaltung. Bremen 1930, S. 52.
- „Nur durch einen Neubau läßt sich die Aufgabe lösen. Seine Pläne sind fertiggestellt, der Bau ist begonnen.“Ludwig Roselius, Die Vollendung der Böttcherstraße. In: Albert Theile, Die Böttcherstraße in Bremen, Idee und Gestaltung. Bremen 1930, S. 52.
Eng in die Konzeption des Museums eingebunden war der aus Holland stammende Germanist, Privatgelehrte und selbsternannte Urgeschichtsforscher Herman Wirth, welcher den Mythos Atlantis hemmungslos propagierte und damit Zugang zu Ludwig Roselius fand, der 1928 seine grundlegende Schrift „Vom Aufstieg der Menschheit“ finanzierte und verlegte. Der ehrgeizige Amateurarchäologe Wirth erkannte in dem Bremer Projekt die einmalige Chance, seiner Idee einer frühgermanischen Hochkultur, die in Atlantis bestanden haben soll, eine halbwegs glaubwürdige, wenn auch von der Wissenschaft belächelte museale Gestalt zu geben. Während Bernhard Hoetger mit dem Gebäude zweifellos sein Meisterstück als Architekt ablieferte, gab Wirth mit seinen völkischen Thesen und seinem Germanenwahn den ideologischen Gehalt des Prachtbaus vor.
Mit seinen obskuren Theorien, wonach Germanen die einzigen Nachfahren des untergegangenen Kontinents Atlantis seien, geriet Wirth nach 1933 auch in die Gunst führender Nationalsozialisten, allen voran Heinrich Himmlers, der mit Unterstützung korrupter Wissenschaftler hartnäckig nach Spuren des verschollenen Kontinents zu suchen begann.
Schlussstein im Projekt Böttcherstraße: Das Haus Atlantis
Wie das gesamte Projekt Böttcherstraße, so war auch dieser architektonische Schlussstein nicht das Ergebnis linearer Planungen, sondern ein mehrfach modifizierter Versuch, baulich und konzeptionell, letztlich auch ideologisch die Neugestaltung zum Abschluss zu bringen, um, wie auch Wirth betonte, Herman Wirth, Das Atlantisproblem. In: Blätter für Freunde germanischer Vorgeschichte, 1931, S. 115ff. die Vorherrschaft des nordischen Menschen zu beweisen.
Roselius selbst Ludwig Roselius, Faltblatt „Der Lebensbaum am Haus Atlantis“, o. J. (um 1931). fasst das verwegene und wissenschaftlich nicht haltbare Programm des Hauses so zusammen: „Das Atlantis-Haus soll jeden Deutschen zum Nachdenken anregen und ihm die Frage vorlegen: ‚Was weißt du von der stolzen Vergangenheit deiner Vorfahren, hast du überhaupt jemals über die Zeiten Roms, Griechenlands, Ägyptens nachgedacht; weißt du, dass diese drei großen Kulturen entstanden sind durch Männer des Nordens, die deine Vorväter gewesen sind? Weißt du, dass in der nordischen Tiefebene, an den Gestaden der Ost- und Nordsee, Kulturen begraben liegen, die deine heutige Kultur übertreffen, die nur darauf warten, zum Licht erweckt zu werden?“
Äußere Schwierigkeiten standen dem Vorhaben zunächst im Wege: da gab es zum einen das im Westen angrenzende, 1927 von Runge und Scotland errichtete „Kontorhaus“, dessen Giebel zur Martinistraße zeigte, während seine Traufseite ein Teil der Böttcherstraße war. Da war zum anderen aber die von der Baubehörde vorenthaltene Genehmigung zur Errichtung eines weiteren Gebäudes in diesem nicht sehr beliebten Ensemble. Hoetger, der bereits 1928 ein erstes, allerdings schnell verworfenes Modell geliefert hatte, wurde 1929 zum Bauleiter bestimmt, als es noch keine Baugenehmigung gab. Um diese zu erwirken bat Roselius prominente Architekten des „Deutschen Werkbundes“ wie Peter Behrens, Bruno Paul und Hans Poelzig um Unterstützung, was umgehend Wirkung zeigte: im Januar 1930 wurde die Genehmigung zur Errichtung eines Gebäudes erteilt, das jetzt den Namen „Haus Atlantis“ trug. Trotz der Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise vom Oktober 1929 wurde sofort mit dem Rohbau begonnen, bereits im Juni 1931 konnte Ludwig Roselius seinen baulichen Tribut an den neuen Zeitgeist feierlich und mit entsprechendem Pathos eröffnen: „Das Haus Atlantis führt zur Urgeschichte der Menschheit zurück…“ Und: „Vergangenheit kündend, Gegenwart richtend, Zukunft verheißend erhebt sich in der Straße der Lebensbaum… erhebend zum Himmel das Kreuz des Erlösers, das, befreit vom Menschenbilde, nur der Sonne Wahrheitsschild trägt.“Ludwig Roselius, Reden und Schriften, S. 103f.
- wie auch Wirth betonte, Herman Wirth, Das Atlantisproblem. In: Blätter für Freunde germanischer Vorgeschichte, 1931, S. 115ff.
- Roselius selbst Ludwig Roselius, Faltblatt „Der Lebensbaum am Haus Atlantis“, o. J. (um 1931).
- nur der Sonne Wahrheitsschild trägt.“Ludwig Roselius, Reden und Schriften, S. 103f.
Es wurde dieses Gebäude nicht nur bauliche Hülle für eine fragwürdige Rassetheorie, sondern zugleich ein relativ profaner Zweckbau: mit einem Institut für Körperkultur, mit Propagandaeinrichtungen für Kaffee HAG, dem Bulgarischen Generalkonsulat, aber eben auch mit einem großzügigen Raumangebot für den prominenten „Club zu Bremen“: einem Lesesaal, einem Vortragsraum und einem exklusiven Clubsaal. Im Erdgeschoss und im Keller befand sich das Institut für Leistungsprüfung. Das alles war auf die vier Geschosse zweier Gebäudeteile verteilt, von denen eines als verwinkeltes Kontorhaus bereits bestand und in den neuerrichteten Teil integriert werden musste, um ein Gesamtbild der Straße abzurunden. 1929 hatte Hoetger im zweiten Anlauf das Modell geliefert, das zur Ausführung kam: eine viergeschossige Stahlkonstruktion mit nur noch geringem Ziegelanteil und vorwiegend verwendetem Beton, womit sich der Architekt und der Bauherr aus der norddeutschen Bautradition verabschiedeten. Die vertikale Ausrichtung des Gebäudes auf den musealen Teil im Obergeschoss, der über ein spektakuläres Treppenhaus und einen nicht minder spektakulären Himmelssaal zu erreichen war, vertrat für Hoetger nichts weniger als die „Sehnsucht nach rein deutscher, vertikaler Form.“Bernhard Hoetger an Herbert Helferich, 15. September 1936.
- „Sehnsucht nach rein deutscher, vertikaler Form.“Bernhard Hoetger an Herbert Helferich, 15. September 1936.
An der Portalfassade offenbarte er die ganze parareligiöse Dimension, die das Haus Atlantis verkörperte, seine irrationale Beschwörung einer Urreligion, sein Einschwenken in jenes völkisch-rassistische Denken, das bald zum bestimmenden Teil der deutschen Politik wurde. Den Eingangsbereich flankierten drei mit Kupferblech beschlagene Pfeiler, die in abstrakten Darstellungen die germanischen Schicksalsmächte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschworen. Darüber erhob sich ein eichener Lebensbaum umschlossen von einem Kranz sogenannter „Urschriftzeichen“ Wirths und gekrönt von einem geschnitzten Gnomen als „atlantischer Heilsbringer“ in ein Radkreuz eingespannt: „halb Wurzelwesen, halb unerlöstes Mannsbild, welches sich, von mooriger Erde aufsteigend, aus den drei Lebenswurzeln erhob.“Heinrich Schmidt-Barrien, Von der Bremer Böttcherstrasse, a. a. O., S. 45.
- „halb Wurzelwesen, halb unerlöstes Mannsbild, welches sich, von mooriger Erde aufsteigend, aus den drei Lebenswurzeln erhob.“Heinrich Schmidt-Barrien, Von der Bremer Böttcherstrasse, a. a. O., S. 45.
Hermann Wirth, der in der Figur eine Verhöhnung der nordischen Mythologie sah, intervenierte und forderte von Hoetger hier einen germanischen Helden. Doch Hoetger weigerte sich und drohte die Bauleitung hinzuwerfen. Schließlich vermittelte Roselius und gab dem Bildhauer freie Hand, allerdings mit der Auflage, stets „die Grundideen Wirths (zu) berücksichtigen.“Bernhard Hoetger an Heinz Puvogel, 4. Juni 1930.
Architektonisches Kernstück des Gebäudes wurde das futuristische Treppenhaus, das einen aus Eisenbeton und Glasbausteinen über vier Geschosse als Spirale frei geführte Treppe enthält, die im Sinne Wirths den „Aufstieg der Menschheit“ symbolisieren soll. Aus der Tiefe eines kunstvoll illuminierten Halbdunkels führt in niedriger Stufenfolge der Weg allmählich hinauf ins Licht. Die hochwertigen Materialien, die an keinen Vorgängerbau Hoetgers erinnern, und eine ans Art Déco angelehnte Formensprache begleiten den langsamen Aufstieg längs der drei zentralen Leuchtpfeiler, die das Treppenhaus umfangen und indirekt beleuchten, während gefiltertes Tageslicht aus einem Lichtschacht auf der südöstlichen Seite durch Glasbausteine fällt. Der Aufsteigende schreitet aus dem diffusen ‚submaritimen‘ Erdgeschoss durch die kunstvolle Illumination hinauf dem Licht entgegen und betritt am Ende den krönenden Himmelssaal als dramaturgischen Höhepunkt.
- „die Grundideen Wirths (zu) berücksichtigen.“Bernhard Hoetger an Heinz Puvogel, 4. Juni 1930.
Der Himmelssaal
Die Lichtmetaphysik war zu Hoetgers Spezialität geworden, nachdem er bereits in seinen Worpsweder Bauten, spätestens im Paula Becker-Modersohn-Haus ein durch farbiges Glas gebrochenes Licht zur Steigerung mystischer Raumwirkungen nutzte und jetzt das ganze Repertoire der Wirkung farbigen Glases ausspielte. Im Himmelssaal zeigt sich seine wohl mutigste bauliche Lösung, statt einer zunächst angedachten gotischen Spitzbogentonne ein parabelförmiges Tonnengewölbe aus Stahlträgern zu verwenden, um zwischen diese bis in die Höhe von über 8 Metern aufragenden Träger ausschließlich blaue und weiße Glasbausteine zu setzen, angeordnet zu stilisierten Lebensbäumen. Kupferne Sonnenscheiben und Symbole der Planeten werden zu Dekorformen dieser Lichthalle, deren Ausrichtung auf eine wie für einen Altar vorgesehene Wand mit Kreuz und Sonnenzeichen ihm gleichwohl die Anmutung eines sakralen Andachtsraumes verleiht, auch wenn er bevorzugt als Tanz- oder Gymnastiksaal und nur gelegentlich als Vortrags- oder Ausstellungsraum genutzt wurde. Erst von hier aus, über eine Empore und den dahinter liegenden Kuppelsaal, war das Herzstück des Gebäudes, das „Väterkundemuseum“ in der Dachetage des Hauses Martinistraße 7 („Kontorhaus“) zu erreichen, welches allerdings nach diesem fulminanten architektonischen Zugang kaum noch Anziehungskraft besaß.
Der historische Verlauf wollte, dass nach den schweren Bombardierungen Bremens im Jahr 1944, die auch das Haus Atlantis in Mitleidenschaft zogen, der Himmelssaal (Abb. 11) zum ersten und letzten Mal die Relikte des „Väterkundemuseums“ präsentierte. Die Portalfassade wurde bei den Bombardierungen zerstört, Odin und Lebensbaum verbrannten. Im Jahr 1954 wurde die wieder geschlossene Fassade mit einem künstlich beleuchteten Sternenhimmel nach Entwürfen der Architekten Säume und Hafermann versehen, der aber aufgrund technischer Mängel zehn Jahre später durch das heute vorhandene Flächenkunstwerk des Düsseldorfer Bildhauers Ewald Mataré ersetzt wurde, das letzte Werk dieses Künstlers.
Himmelssaal und Kuppelsaal
Literatur
- Dirk Mahsarski/ Sabrina Schütze, Museum Väterkunde und Focke-Museum – zwei Bremer Beispiele. In: Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, Hrsg. Focke Museum, Bremen, Bremen 2013, S. 94ff.
- Lilian Mrusek, Das Haus Atlantis. In: Projekt Böttcherstraße, Hrsg. Hans Tallasch, Delmenhorst 2002, S. 169ff.
- Arn Strohmeyer, Der gebaute Mythos. Das Haus Atlantis in der Bremer Böttcherstraße, Bremen 1993.
- Katharina Uhl, Januskopf Böttcherstraße. Kulturelle Erneuerung, gebaute Utopie und nationale Identität, Diss. Münster 2011.
Text
Bernd Küster