Es ist erstaunlich, dass Ludwig Roselius, dessen kulturelle Ambitionen mit einem leidenschaftlichen Sammlerinteresse korrespondierten und in museale Projekte der Böttcherstraße mündeten, bei diesen anspruchsvollen Aufgaben nicht an die Einsetzung wissenschaftlicher Fachkräfte dachte, sondern sie hauptamtlich von Amateuren erledigen ließ. Das betraf die Einrichtung des Roselius-Hauses und des Paula-Modersohn-Becker-Hauses, schließlich auch und vor allem das Väterkundemuseum im Haus Atlantis, für das die Wissenschaftsferne fatale Folgen haben sollte. Auch die Betreuung der Ausstellungshäuser in Worpswede überließ er langjährigen Mitarbeitern seines Vertrauens wie jenem Martin Goldyga, den er über Bernhard Hoetger kennen und schätzen lernte und der bis in die 1960er Jahre als Angestellter der Seehandel AG (später Seehandel GmbH) die „Große Kunstschau Worpswede“ leitete.
Eine besondere Rolle fiel hier wie dort der 1877 geborenen und in einem Waisenhaus aufgewachsenen Philippine Scholz zu, die nach ihrer Eheschließung mit Franz Vogeler, einem Bruder des Malers, nicht zuletzt durch Gunst und Förderung von Ludwig Roselius zur wichtigsten Galeristin in der Geschichte Worpswedes avancierte. Im Jahr 1902 hatte Franz Vogeler die 25-jährige Bremerin geheiratet und mit ihr wie mit der Familie des Bruders Eduard in Adiek bei Zeven ein altes Hofgut in eine moderne Geflügelfarm umzuwandeln versucht, was zwar gelang, aber beide Familien letztlich nicht ernähren konnte.
So kehrte das Paar 1903 nach Worpswede zurück, führte die Geschäfte Heinrich Vogelers und bezog zwei Jahre später die obere Etage der ehemaligen Wagenremise in der Villa Monsees, um hier „Ausstellungsmöglichkeiten für die Erzeugnisse der Künstler zu schaffen“.25 Jahre Kunsthalle Vogeler in Worpswede, in: Bremer Nachrichten, 3. April 1931. Im Jahr darauf erhielt das Ehepaar die Genehmigung zum Umbau und zur Einrichtung von Ausstellungs- und Verkaufsräumen. Ihr als GmbH eingetragenes „Kunst und Kunstgewerbehaus Worpswede“ wurde zu Ostern 1906 als Sommergalerie mit einem breiten Angebot an örtlicher Kunst und Kunsthandwerk eröffnet, vor allem mit Werken Heinrich Vogelers, der in seiner Schwägerin eine solide und dauerhafte Stütze für den Verkauf eigener Arbeiten fand.
In dieser ersten Worpsweder Galerie entstand nicht nur ein wichtiges Zentrum zur Selbstdarstellung der Künstlerkolonie, sondern auch ein wirtschaftliches Forum, das den Vertrieb Worpsweder Werke organisierte oder initiierte. Ohne die Verbindung zu Philine Vogeler wäre die Sammlung von Arbeiten Paula Modersohn-Beckers durch Ludwig Roselius kaum zustande gekommen. 1908 gab es bereits im „Kunst und Kunstgewerbehaus“ eine erste Gedächtnisausstellung der im Vorjahr verstorbenen Malerin, ab 1915 wurde mit Philines Hilfe die Sammlung für Roselius konsequent aufgebaut.
Mobiliar nach Entwürfen Heinrich Vogelers erfreute sich nach der Jahrhundertwende regional wie überregional zunehmender Beliebtheit und führte 1908 zur Gründung der „Worpsweder Werkstätten“ durch die Brüder Vogeler im nahegelegenen Tarmstedt, wo eine bessere Verkehrsanbindung bestand. Franz Vogeler führte die Geschäfte, Philine wuchs in Worpswede mehr und mehr in die Verantwortung für Kunsthandel und Galerie hinein, ihre Expertise wurde geschätzt und gesucht, von den ortsansässigen Künstlern, später auch von Sammlern wie Ludwig Roselius. 1912 erlitt ihr Mann einen physischen Zusammenbruch, was das vorläufige Ende des Ausstellungshauses bedeutete, die Räume wurden an den Bildhauer Heinrich Seekamp vermietet. Im August 1914 meldeten sich die drei Vogeler-Brüder freiwillig zum Kriegsdienst, Franz Vogeler starb bereits im Mai des folgenden Jahres an der Ostfront. Für den Schwager Heinrich blieb Philine Vermittlerin und Vertrauensperson, sie begleitete als aufmerksame Beobachterin seinen schicksalhaften Weg nach Rückkehr aus dem Weltkrieg. „Heinrich malt etwas, aber froh sah ich ihn nicht“, schrieb sie im Mai 1922 an Ludwig Roselius.
- „Ausstellungsmöglichkeiten für die Erzeugnisse der Künstler zu schaffen“.25 Jahre Kunsthalle Vogeler in Worpswede, in: Bremer Nachrichten, 3. April 1931.
Mit ihrer Beratung und dank ihrer Verbindungen knüpfte sie das Band des Mäzens nach Worpswede immer enger, sie wurde für den Aufbau der Sammlungen in der Böttcherstraße unentbehrlich. Anlässlich einer Ausstellung mit Arbeiten Bernhard Hoetgers im Jahr 1914 sah Roselius in ihrer Galerie erstmals Werke von Paula Modersohn-Becker, deren bedeutende Vermittlerin in dieser Dekade Philine Vogeler war. Die geschäftlichen und auch persönlichen Beziehungen zur Galeristin wurden stetig enger, Roselius übertrug ihr nahezu uneingeschränkte Befugnisse und 1926 „die Oberleitung der Bremer Kunstschau in der Böttcherstraße.“Bremer Volkszeitung, 2./3. April 1931. 1928 wurde sie zur Geschäftsführerin der „Bremer Werkschau GmbH“ ernannt, mit der zentralen Aufgabe der musealen Einrichtung des Paula Becker-Modersohn-Hauses. Im ersten Stock richtete sie einen „Vogeler Raum“ mit Hauptwerken ihres Schwagers ein, die sich nicht zuletzt dank ihrer Vermittlung in der Roselius-Sammlung befanden: u. a. „Der Sommerabend“, „Sehnsucht“ und „Heilige drei Könige“. Der „Worpswede Saal“ umfasste die Sammlung der Kollegen Heinrich Vogelers, im „Niedersachsen Saal“ waren mit ca. 30 Werken dann die aktuellen Worpsweder vertreten, u. a. Walter Bertelsmann, Robert Koepke und Alfred Kollmar. „Ich betrachte es als meine Aufgabe“, so hatte Roselius 1922 an Heinrich Vogeler geschrieben, „der Nachwelt einen Ausschnitt desjenigen Kunstlebens zu geben, das sich hier in dieser großen Zeit gebildet hat.“Ludwig Roselius an Heinrich Vogeler, 21. März 1922. 1931, als die Sammlungsräume vor allem mit Hilfe Philines nahezu vollständig eingerichtet waren, stellte der Sammler mit Genugtuung fest: „Die Böttcherstraße wird jetzt wirklich das, was ich mir erträumt habe. Selbst die, die das Entstehen miterlebt haben, werden sich wundern.“Ludwig Roselius an Philine Vogeler 7. April 1931.
- „die Oberleitung der Bremer Kunstschau in der Böttcherstraße.“Bremer Volkszeitung, 2./3. April 1931.
- „der Nachwelt einen Ausschnitt desjenigen Kunstlebens zu geben, das sich hier in dieser großen Zeit gebildet hat.“Ludwig Roselius an Heinrich Vogeler, 21. März 1922.
- „Die Böttcherstraße wird jetzt wirklich das, was ich mir erträumt habe. Selbst die, die das Entstehen miterlebt haben, werden sich wundern.“Ludwig Roselius an Philine Vogeler 7. April 1931.
Das von Bernhard Hoetger an der Ecke Bergstraße/Lindenallee für die aus Westfalen stammende Weberin Elisabeth Vatheuer 1928 errichtete Gebäude wurde 1929 von Ludwig Roselius erworben und Philine Vogeler als Dependance der Kunstabteilung der Böttcherstraße übertragen: als „Kunsthalle Philine Vogeler“. Die Galeristin lebte fortan im Sommer in Worpswede, in den Wintermonaten in Bremen, um die „Werkschau“ zu betreuen. Sie arbeitete in Worpswede selbständig, war allerdings wirtschaftlich an die Böttcherstraße gebunden: eine 1930 geschlossenes Abkommen über den Galeriebetrieb - zuweilen revidiert, aber im Grundsatz fortgeschrieben - sieht eine Gewinnbeteiligung der Seehandel AG von 50 % aller Einnahmen aus dem Kunsthandel vor, ebenso die Teilung der allgemeinen Geschäftskosten.
Philine Vogeler wurde für alles, was Worpswede und die Böttcherstraße verband, unersetzlich, als weithin geachtete Persönlichkeit, als Entdeckerin neuer Talente, als Vermittlerin einer hochwertigen Tradition bildender Kunst ganz Norddeutschlands. „Philine war ein kluger, liebenswerter Mensch“, schrieb die Prinzessin Reuß zur Lippe in ihren „Erinnerungen an Worpswede“. 1933 wurde ihr angeboten, die Kunstschau in der Böttcherstraße zu übernehmen und selbständig zu führen, mit allen damit verbundenen Vorteilen und Risiken. Doch Philine lehnte ab, ein solcher Vorschlag sei „wohl nicht durchführbar.“Philine Vogeler an Heinz Puvogel, 13. April 1933. Im gleichen Jahr wurde die Galeristin Mitglied im „Kampfbund für deutsche Kultur, Ortsgruppe Worpswede“, fügte sich den Reglementierungen der NS-Organe und passte sich in ihrem Ausstellungsprogramm deren Weisungen an. Vormals von ihr geförderte Expressionisten wie Bram van Velde, Karl Jakob Hirsch und das Ehepaar Paul und Hilde Hamann wurden nicht mehr gezeigt. Auch ließ sie es zu, dass der Maler Carl Emil Uphoff als Vertreter der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ regelmäßig in Parteiuniform die Ausstellungsräume kontrollierte und seine private Auslese an „entarteter Kunst“ traf. In der Retrospektive auf „Worpsweder Kunst“ im Sommer 1940 präsentierte sie 14 Kupferstiche von Carl Emil Uphoff aus seiner Mappe „Der Führer spricht“.
- „wohl nicht durchführbar.“Philine Vogeler an Heinz Puvogel, 13. April 1933.
1936, im dreißigsten Jahr des Bestehens ihrer Galerie, stellte sie den Antrag zur Aufnahme in die „Reichskammer der bildenden Künste“ und war fortan gegenüber dem Landesleiter Weser-Ems für ihre Ausstellungstätigkeit zur Rechenschaft verpflichtet. Als im Jahr 1937 der Widerstand gegen die Böttcherstraße nicht zuletzt durch die Einlassungen Adolf Hitlers immer vehementer wurde, unternahm Philine Vogeler beim Landesleiter den mutigen Versuch, die Bilder ihres Schwagers wieder aufhängen zu lassen und - gleichsam als abschreckende Beispiele - öffentlich zugänglich zu machen. „Dass damit tatsächlich nur Belehrendes geboten werden würde, geht auch schon aus folgender Tatsache hervor: Das Bild ‚Kommunismus‘ wurde seinerzeit reproduziert und diente als Umschlagseite eines Buches von Ludwig Roselius,Ludwig Roselius gegen Heinrich Vogeler – Kommunismus? Bremen, 1919. in dem er auf die unausbleiblichen entsetzlichen Folgen des Kommunismus für die Menschheit hinwies und den Kommunismus aufs Äußerste bekämpfte.“Philine Vogeler an H. Fricke, Landesleiter Weser-Ems der Reichskammer der bildenden Künste, 2. November 1937. Der wohlgemeinte Versuch blieb ergebnislos, die Anordnung des Präsidenten der ReichskammerH. Fricke an die Bremer Kunstschau, 20. Januar 1938. war unmissverständlich: „Die Gemälde ,Trauer‘,Das Leiden der Frau im Kriege, 1918, das sich seit 1921 in der Sammlung befand. Roselius hatte dem Maler bereits kurz nach Kriegsende zugestanden: „Ihre Bilder drücken das entsetzliche Elend, das die Menschheit befallen hat, aus.“ ,Zusammenbruch des Christentums‘ und ,Kommunismus‘ von Vogeler sind zu entfernen“; und: „die nicht öffentliche Sammlung der Werke von Paula Becker-Modersohn ist dem freien Besuch unzugänglich zu machen.“
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Tod von Ludwig Roselius blieb der Galeriebetrieb Philine Vogelers erhalten, nachdem ihr 1944 das Gebäude, das noch heute ihren Namen trägt, wieder übergeben worden war. 1946 fand hier eine erste Nachkriegsausstellung mit Werken Paula Modersohn-Beckers aus der Sammlung Roselius statt. Zwischen Kriegsende und Währungsreform lag der Galeriebetrieb nahezu brach, es kamen wenige Besucher, und durch die schlechte Versorgungslage waren die Angebote denkbar gering: fürs Kunsthandwerk musste vorab das Material beschafft werden, für druckgraphische Arbeiten selbst das Papier. Doch auch nach der Währungsumstellung verbesserte sich die Lage kaum, 1949 betrugen die Einnahmen monatlich nur etwa 40 DM. „Ein Sonntag mit einem Dutzend Besuchern und vielleicht DM 20,- Umsatz ist in der letzten Zeit häufig vorgekommen.“Philine Vogeler an Edgar Puvogel, 10. Mai 1949.
Die Galeristin wohnte mit ihrem Sohn Eduard und einer Haushälterin bis zu ihrem Lebensende 1952 in dem Seitenbau der vormaligen Weberei. Fünf Jahre später wurde die Kunsthalle in „Galerie Worpswede“ umbenannt und der Leitung des Kunsthistorikers Hans Herman Rief unterstellt, bis sich der Betrieb für die Geschäftsführung der Böttcherstraße als nicht mehr rentabel erwies und das Haus an die Gemeinde Worpswede veräußert wurde.
- Umschlagseite eines Buches von Ludwig Roselius,Ludwig Roselius gegen Heinrich Vogeler – Kommunismus? Bremen, 1919.
- und den Kommunismus aufs Äußerste bekämpfte.“Philine Vogeler an H. Fricke, Landesleiter Weser-Ems der Reichskammer der bildenden Künste, 2. November 1937.
- Anordnung des Präsidenten der ReichskammerH. Fricke an die Bremer Kunstschau, 20. Januar 1938.
- ,Trauer‘,Das Leiden der Frau im Kriege, 1918, das sich seit 1921 in der Sammlung befand. Roselius hatte dem Maler bereits kurz nach Kriegsende zugestanden: „Ihre Bilder drücken das entsetzliche Elend, das die Menschheit befallen hat, aus.“
- „Ein Sonntag mit einem Dutzend Besuchern und vielleicht DM 20,- Umsatz ist in der letzten Zeit häufig vorgekommen.“Philine Vogeler an Edgar Puvogel, 10. Mai 1949.
Text
Bernd Küster