Ansicht Böttcherstraße 1931

Das Architekturkonzept der Böttcherstraße

 
Die Böttcherstraße ist eine nach dem Ersten Weltkrieg konzipierte Straße mit einem Programm, das den Besuchern bestimmte Inhalte vermitteln soll. Sie versteht sich als ‘Stadt in der Stadt’. In welchem geistesgeschichtlichen und wirtschaftspolitischen Kontext hat Ludwig Roselius sein Lebenswerk errichtet?
Abb. 1: Historisches Häuserschema 1936 (Böttcherstraße GmbH)
Quelle
Archiv Böttcherstraße

Das Architekturkonzept der Böttcherstraße und die Kaffee HAG

Anfang des 20. Jahrhunderts reiste Ludwig Roselius (Abb. 2) nach Amerika. Der Kaufmannssohn, der in Bremen und Hannover groß geworden war, dem sich die mittelalterliche Stadt und die norddeutsche Landschaft eingeprägt hatten, betrachtete begierig die Lebensweisen und die Architektur der neuen Welt. Roselius erkundete vor allem die Organisation der Wirtschaft. »Beim Schaffen der eigenen hatte ich jede Organisation von Bedeutung in Europa und Amerika kennen gelernt. Eisenbahn und Post, Bank und Sparkasse, Fabrik und Warenhaus, Heilsarmee und Jesuitenorden, Sozialdemokratie und Gewerkschaften, Läden und Markenartikelgeschäfte [...] mussten mir ihre Geheimnisse preisgeben.«Ludwig Roselius: Briefe, Bremen 1918, S. 7.

Ideal und Organisation

Roselius besuchte neben anderen Direktoren und Organisatoren Frederick Winslow Taylor,Leider kennen wir weder den Reiseablauf, noch wissen wir, mit welchen Personen, abgesehen von Taylor, er Gespräche führte. Henry Ford lernte Roselius Ende der 1920er Jahre kennen. der damals im Begriff war, die »wissenschaftliche Betriebsführung« zu entwickeln. Taylor (Abb. 3) hatte einen enormen Einfluss auf Roselius. Der Bremer Kaufmann, der plante, eine Fabrik zu gründen, erkannte im Taylorismus,Zu Taylor vgl. vor allem: Walter Hebeisen: F. W. Taylor und der Taylorismus : Über das Wirken und die Lehre Taylors. Zürich 1999. der rationalen Organisation aller Wirtschaftsbereiche, das Prinzip der Zukunft. Im Roselius-Vokabular steht der Begriff »Organisation« an erster Stelle. Doch eine Organisation allein reiche nicht aus. Sie müsse zielgerichtet und erfolgsorientiert sein (Roselius sprach vom »energetischen Imperativ«). Für einen Deutschen war es eine atemberaubende Idee, mit einer zielgerichteten Wirtschaftsorganisation die Massen beeinflussen zu können, ohne »Macht zum Zwange« zum Ziel kommen zu können. Auf diesem Gebiet wussten die Amerikaner alles, die Europäer fast nichts. »Es kostet Überwindung«, schrieb Roselius,Ludwig Roselius: Briefe. Bremen 1918, S.7f. sich »von diesem Gefühl« der Bremer Zurückhaltung freizumachen. Die amerikanischen Städte, die die Massen im rationalen Raster organisierten, schienen ein Abbild der Ideen Taylors zu sein. Der Unterschied zu Bremen oder Hannover war gewaltig. Die amerikanische Stadt, die auf beinahe geschichtslosem Boden gegründet wurde, war ganz nach den modernen Erfordernissen ausgerichtet: hohe Häuser für die Angestellten, breite Straßen für den schnell anwachsenden Verkehr, riesige Werbetafeln der Konsumgüterindustrie, kleine Geschäfte für die Bedürfnisse der stets eilenden Passanten. Mittels Propaganda wurden die Massen beeinflusst! Die Bürohochhäuser, die sich vor allem in Chicago und Manhattan erhoben, waren in Europa, zumal in den mittelalterlich geprägten Städten, gänzlich unbekannt.Erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kam es auch in Deutschland zu einem »Hochhausfieber« unter den Bauherren und Architekten.

  • mussten mir ihre Geheimnisse preisgeben.«Ludwig Roselius: Briefe, Bremen 1918, S. 7.
  • Frederick Winslow Taylor,Leider kennen wir weder den Reiseablauf, noch wissen wir, mit welchen Personen, abgesehen von Taylor, er Gespräche führte. Henry Ford lernte Roselius Ende der 1920er Jahre kennen.
  • Taylorismus,Zu Taylor vgl. vor allem: Walter Hebeisen: F. W. Taylor und der Taylorismus : Über das Wirken und die Lehre Taylors. Zürich 1999.
  • schrieb Roselius,Ludwig Roselius: Briefe. Bremen 1918, S.7f.
  • gänzlich unbekannt.Erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kam es auch in Deutschland zu einem »Hochhausfieber« unter den Bauherren und Architekten.
Abb. 2: Ludwig Roselius
Quelle
Boris, New York

Doch Roselius sah, dass das innerstädtische Kontorhaus mit seiner Reklame-Korona keine rein amerikanische Erscheinung war, sondern eine zwingende Voraussetzung für das moderne Wirtschaftsleben. Die neuen Konzerne, die die Weltmärkte zu erobern begannen, benötigten für die enorm anwachsenden Verwaltungsaufgaben, für Einkauf und Verkauf, für Buchhaltung und Faktorierung riesige Flächen. Aber die Flächen mussten organisiert werden. Jedes Kontorhaus bildete einen »vernünftigen«, auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Mikrokosmos. Jedes Kontorhaus bildete eine riesige Aktenablage mit gleich gerichteten Strukturen. Vor allem im Angebot von Serviceeinrichtungen für die Angestellten – Cafés, Friseurgeschäfte, kleine Läden – unterschieden sich die Kontorhäuser noch voneinander. Doch konnte die amerikanische Stadt, diese durch und durch rationale Maschinerie, die offenkundig ohne größere Reibungsverluste funktionierte, in allen ihren Ausprägungen Vorbild sein für die europäische? Die meisten deutschen Architekten meinten damals entschieden: »Nein«. Die angeblich minderwertige gründerzeitliche Architektur, die in Chicago oder Manhattan geübt werde – klassizistische Fassadendekorationen dominierten beispielsweise die Wallstreet –, dürfe man nicht nachahmen. Die Aufteilung des Stadtgrundrisses in Blöcke berücksichtige darüber hinaus nicht die vielfältigen, auch historisch gewachsenen Sonderbedingungen der europäischen Stadt, zerstöre Schönheit. Zudem fehle in der rationalen Stadt die soziale und emotionale Komponente.

Abb. 3: Frederick Winslow Taylor
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Wikipedia Gemeinfrei

Roselius bemerkte kritischVgl. Ludwig Roselius: Reden und Schriften zur Böttcherstraße in Bremen, Bremen 1932. die vielen Armen und Arbeitslosen in den Straßen von New York. In der amerikanischen Stadt sah Roselius folglich kein unbedingtes Vorbild. Chicago war nicht besser als eine deutsche, norddeutsche Stadt. Vielmehr konnten Bremen, Stade oder Buxtehude Qualitäten aufweisen, die man im kalten Amerika schmerzlich vermisste. Das hier vorhandene Alte kündet von den eigenen Ursprüngen, es erzählt von der Kontinuität des Volkes, gibt auch Geborgenheit. Doch im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Organisation und der Propaganda, war das bloße Erhalten des Alten nicht mehr zeitgemäß. Roselius war der Meinung, dass man die neuen Organisationsformen, den Taylorismus, den Erfolgswillen, die Massenorganisation, auf die alte Stadt übertragen könne, ohne das Bild der alten Stadt zu beschädigen. Die europäische Stadt bot die Chance, die Prinzipien der neuen Zeit einzubinden in den Kontext der Tradition. Die Böttcherstraße geriet zum Experiment: Die »Eindeutschung« und »Regionalisierung« amerikanischer radikaler Wirtschaftsprinzipien wurde probiert. Die Propaganda bekam eine in die historische, behagliche Stadt hineinpassende Gestalt – und sollte umso wirkungsvoller sein. Man kann konstatieren, dass sich Roselius früher als andere mit den Grundbedingungen des amerikanischen Wirtschaftsbooms auseinander setzte. Früh versuchte er das Vorbild Amerika, das vor allem Künstler und Architekten eher als eine Gefahr empfanden, konstruktiv in sein Denken und Handeln zu überführen.

  • bemerkte kritischVgl. Ludwig Roselius: Reden und Schriften zur Böttcherstraße in Bremen, Bremen 1932.
Abb. 4: HAG Fabrikgelände (Historischer Stich vor 1972)
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Archiv Böttcherstraße Bremen

Bremer Moderne

Die Kaffeefabrik am Fabrikenufer,Vgl. Bremer Landesmuseum (Hg.): Kaffeefabrik in Eisenbeton. Fischerhude 1991. 1906/07 erbaut (Abb. 4), ist ein erstes Abbild von Roselius’ Amerika-Erfahrung. Die Häuser der Produktion wurden ohne jeden Schmuck ganz modern in Eisenbeton errichtet. Jeder Verfahrensschritt bekam ein eigenes Gebäude – ganz den Erfordernissen der Nutzung entsprechend. Das Verwaltungsgebäude war unauffällig eingepasst in die Abfolge der Produktionsanlagen. Repräsentationsräume oder schöne, geordnete Fassaden gab es bewusst nicht. Allein die Funktion bestimmte die Baufolge.

Abb. 5: Fließband in der HAG-Fabrik um 1930 (Foto Becker)
Ohne Berührung durch den Menschen verließ am Ende die fertige Kaffeeverpackung die Fabrik.
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Fotobuch zum 25 jährigen Jubiläum der HAG 1931 (Archiv Böttcherstraße)
Abb. 6: Hugo Wagner (1873-1944), Architekt der HAG-Fabrik
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Privatbesitz

Verbunden war die ganze Anlage mit den verschiedenen Gebäuden durch ein Fließband (Abb. 5) das den Kaffee den unterschiedlichen Veredlungsmaschinen zuführte. Gebläse beförderten die Bohnen in die teilweise turmhohen Produktions- bauten. Kein Mensch, so hieß es damals, komme mehr mit der Kaffeebohne in Berührung.Der Ablauf der Produktion wurde derart automatisiert, dass sich »die menschliche Tätigkeit [...] nur auf die Beaufsichtigung der automatisch arbeitenden Maschinen beschränkte«. Emil Beutinger: »Die Fabrikanlagen der Kaffee-Handels-A.G. Bremen«. In: Der Industriebau 15.4.1910, 4. Heft, S.76. Damit der Kaffee automatisch durch die Produktion lief, war die gesamte Fabrik einer perfekten Organisation unterworfen.

Früher als alle anderen deutschen Direktoren hatte Roselius Taylors »wissenschaftliche Betriebsführung« kennen gelernt und umgesetzt. Bei der Seehandel AG, der Dachgesellschaft des Roselius-Imperiums, war gar eine Abteilung mit dem Namen »Wissenschaftliche Betriebsführung«Das Büro der »Wissenschaftlichen Betriebsführung« zog 1913 in die Böttcherstraße 6 ein (s. Wissenschaftliche Betriebsführung, Kleine Chronik 1913-1963, Privatdruck zur Jubiläumsfeier am 15.11.1963, (Archiv Böttcherstraße Inv.Nr. 9.3.6.1). eingerichtet worden.
Um jedoch die Fabrik nach Taylor nicht wie einen Fremdkörper in der norddeutschen Landschaft erscheinen zu lassen, setzte der Architekt und Niedersachsenrunde-Mitstreiter Hugo WagnerDen Architekten Wagner hatte Roselius als Heimatschutz-Mitstreiter in der Niedersachsenrunde kennen gelernt. Es erstaunt, dass es Wagner, der kleine Landhäuser baute und Bauernhäuser restaurierte, gelang, eine derart anspruchsvolle Bauaufgabe erfolgreich umzusetzen. Zu Wagner vgl. Holger Maraun: Hugo Wagner, Ein Architekt der Reformbewegung. Lilienthal 1995. (Abb. 6) auf den zweckmäßigen Eisenbeton-Bau ein hohes Ziegel-Walmdach. Die nackte Beton- und Stein-Fassade wurde mit »Weserkies-Rauputz« verkleidet.

Roselius war offenbar mit der Architektur der Kaffeefabrik sehr zufrieden. Sie war modern und funktional (nach amerikanischen Maßstäben), entsprach den Erfordernissen des Heimatschutzes (bediente die Emotionen) und ließ sich zudem als Werbebotschaft einsetzen.

  • in Berührung.Der Ablauf der Produktion wurde derart automatisiert, dass sich »die menschliche Tätigkeit [...] nur auf die Beaufsichtigung der automatisch arbeitenden Maschinen beschränkte«. Emil Beutinger: »Die Fabrikanlagen der Kaffee-Handels-A.G. Bremen«. In: Der Industriebau 15.4.1910, 4. Heft, S.76.
  • »Wissenschaftliche Betriebsführung«Das Büro der »Wissenschaftlichen Betriebsführung« zog 1913 in die Böttcherstraße 6 ein (s. Wissenschaftliche Betriebsführung, Kleine Chronik 1913-1963, Privatdruck zur Jubiläumsfeier am 15.11.1963, (Archiv Böttcherstraße Inv.Nr. 9.3.6.1).
  • Hugo WagnerDen Architekten Wagner hatte Roselius als Heimatschutz-Mitstreiter in der Niedersachsenrunde kennen gelernt. Es erstaunt, dass es Wagner, der kleine Landhäuser baute und Bauernhäuser restaurierte, gelang, eine derart anspruchsvolle Bauaufgabe erfolgreich umzusetzen. Zu Wagner vgl. Holger Maraun: Hugo Wagner, Ein Architekt der Reformbewegung. Lilienthal 1995.

In zahlreichen DruckschriftenWeitere Werbeanzeigen sind dokumentiert in: Landesmuseum (Hg.), a.a.O. der Zeit wird die Fabrikfassade entsprechend gezeigt (Abb. 7) – eine moderne Fabrik, in der zeitgemäßer Reformkaffee entsteht. Die Synthese von Taylorismus und Heimatschutz geriet für Roselius zu einem passenden Werbeargument.

Abb. 7: Kaffee-HAG Werbung mit dem modernen Fabrikgebäude (Entwurf Eduard Scotland)
Quelle
Archiv Böttcherstraße Bremen

Mimese – die Böttcherstraße

Das Rezept für eine neue Architektur, das im Fabrikbau erfolgreich anzuwenden war (noch Walter GropiusWalter Gropius: »Die Entwicklung moderner Industriebaukunst«. In: Die Kunst in Industrie und Handel, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes. Jena 1913, S. 21. zählte die Fabrik der Kaffee-Handels-AG 1913 zu den wichtigsten Industriebauten der Zeit), konnte im Bereich der mittelalterlich geprägten Stadt nicht funktionieren. Zwischen Rathaus, Schütting und Essighaus konnte, so die Meinung der Heimatschützer, kein Eisenbeton-Gebäude mit Rauputz-Fassade errichtet werden. Die moderne, amerikanische Architektur, deren Gestalt sachlich war, würde hier das alte Gefüge zerstören. Im Gegenteil: Die Heimatschutz-Architekten der Niedersachsenrunde propagierten den Erhalt und die Fortführung des Alten. Neubauten sollten im Sinne alter Handwerkstraditionen entstehen – möglichst Stein für Stein.Andere Architekten, so die Amerika-erfahrenen Behrens & Neumark, sahen das anders. Sie versuchten die Architektur der Wolkenkratzer zumindest in ihren Grundformen nach Bremen zu bringen. Das Amerikahaus an der Bahnhofstraße wurde als kleiner Wolkenkratzer im Chicago-Stil errichtet. Die Räume wurden an zahlreiche Firmen vermietet. Doch die Behrens & Neumark-Bauten durchbrachen die alte Struktur, zeigten über- deutlich das Funktionieren der neuen Zeit. Vgl. Aschenbeck (Hg.): Häuser der Großstadt. Die Architekten Behrens und Neumark in Bremen. Delmenhorst 1996.

  • Walter GropiusWalter Gropius: »Die Entwicklung moderner Industriebaukunst«. In: Die Kunst in Industrie und Handel, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes. Jena 1913, S. 21.
  • möglichst Stein für Stein.Andere Architekten, so die Amerika-erfahrenen Behrens & Neumark, sahen das anders. Sie versuchten die Architektur der Wolkenkratzer zumindest in ihren Grundformen nach Bremen zu bringen. Das Amerikahaus an der Bahnhofstraße wurde als kleiner Wolkenkratzer im Chicago-Stil errichtet. Die Räume wurden an zahlreiche Firmen vermietet. Doch die Behrens & Neumark-Bauten durchbrachen die alte Struktur, zeigten über- deutlich das Funktionieren der neuen Zeit. Vgl. Aschenbeck (Hg.): Häuser der Großstadt. Die Architekten Behrens und Neumark in Bremen. Delmenhorst 1996.
Abb. 8: Runge & Scotland, Zeichnung Neubau Böttcherstraße 4 (1924)
Quelle
Inv. Nr. BP 3291, Archiv Böttcherstraße Bremen

Als Roselius 1922 vor die Notwendigkeit gestellt war, ebenfalls einen großen Verwaltungsbau für die Bremen-Amerika-Bank zu errichten, versuchte er, das Alte zumindest als Bild zu lassen. Das große Verwaltungsgebäude, das zwischen Wachtstraße und Böttcherstraße entstand, wurde aus dem Bestand alter Packhäuser zusammengefügt. Zum kleinen Platz an der Böttcherstraße bekam es drei Giebel mit einem Blendmauerwerk aus Ziegelsteinen (Abb. 8). Der Betrachter erlangte den Eindruck, vor altbremischen Kaufmannshäusern zu stehen. Tatsächlich verbarg sich hinter den traditionellen Giebeln ein lang gestrecktes, modernes Kontorhaus. Mit der Bremen-Amerika-Bank hatte Roselius noch den Zwang, einen völligen Neubau im Altstadt-Kontext zu errichten, geschickt umgehen können. Doch die Notwendigkeit, auch im Altstadtbereich neu zu bauen, konnte von ihm nicht bestritten werden.

Das erste große altstädtische Bauvorhaben, das er in Auftrag gab, war die Neugestaltung der westlichen Seite der Böttcherstraße durch die Architekten Runge & Scotland (Abb. 9). »Herr Roselius verfolgt mit diesem Vorhaben den Plan, in der Nähe des vom Fremdenverkehr ständig aufgesuchten Marktplatzes im Einklang mit dessen alter Architektur eine kleine Kolonie für Künstler und Kleinkunsthandwerker mit Ateliers, Läden und Wohnungen erstehen zu lassen, die in ihrer Eigenart wiederum für den Fremdenverkehr einen Anziehungspunkt bildet.«Aus: Verhandlungen zwischen dem Senat und der Bürgerschaft vom Jahre 1923, S. 418ff.

Der Bremer Staat hatte diesen Bereich eigentlich für einen größeren Kontorhaus-Komplex vorgesehen. Es bedurfte gutachterlicher Stellungnahmen durch die »Kommission zur Erhaltung kunsthistorischer Denkmale« und durch den Berliner Stadtbaurat HoffmannHoffmanns Gutachten ist teilweise wiedergegeben in: Verhandlungen zwischen dem Senat und der Bürgerschaft vom Jahre 1923, S. 418ff. sowie einiger Überzeugungsarbeit, um den Landstreifen an der Böttcherstraße bebauen zu können. Roselius verhinderte damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu Marktplatz und Schütting den Bau eines weiteren Gebäudes in den Dimensionen der Baumwollbörse oder der Disconto-Bank. Doch er schuf hier keine träumerische Altstadt-Rekonstruktion. Vielmehr erkannte er besser als seine Kritiker die Bedürfnisse der Menschen der Zeit. Neben der Arbeit in den Kontorhäusern war seit der Jahrhundertwende mehr und mehr eine Angestellten- und Touristenkultur entstanden, die zu bedienen war. Neben den »harten« Rahmenbedingungen (Schaffung von Büroraum und Schaffung einer Verkehrs-Infrastruktur) waren plötzlich auch »weiche« Rahmenbedingungen herzustellen.

  • einen Anziehungspunkt bildet.«Aus: Verhandlungen zwischen dem Senat und der Bürgerschaft vom Jahre 1923, S. 418ff.
  • HoffmannHoffmanns Gutachten ist teilweise wiedergegeben in: Verhandlungen zwischen dem Senat und der Bürgerschaft vom Jahre 1923, S. 418ff.
Abb. 9: Bremen, Böttcherstraße, Haus St. Petrus nach Südwesten um 1935 (Foto: Stickelmann)
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Archiv Böttcherstraße Bremen

Tourismus

Während die Angestellten in den modernen oder weniger modernen Kontorhäusern über ihren maschinengeschriebenen Papieren saßen, schlenderten jedes Jahr mehr Fremde durch die Straßen, um die alte, unmoderne Hansestadt zu erleben. Man sprach, ganz technisch, vom »Fremdenverkehr«. Mit den Weltausstellungen war bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Städtetourismus aufgekommen, der Reisende mehr und mehr auch nach Bremen führte. Vor allem Amerikaner, die über Bremerhaven nach Deutschland kamen, die auf dem Weg nach Berlin in Bremen umsteigen mussten, besichtigten die Hansestadt und deren Baudenkmäler (Abb. 10). Offenbar hatte Roselius diesen neuen Wirtschaftsfaktor sofort erkannt. Mit der Böttcherstraße schuf er ein bremisches Altstadt-Surrogat, ein »Erinnerungszeichen« (Hoffmann 1924), das den Kurzreisenden als Tagesprogramm genügte. Nach Marktplatz und Böttcherstraße konnte der Reisende getrost auf weitere mühsame Wanderungen durch die Altstadt, womöglich zum Focke-Museum im Stephani-Viertel, verzichten.

Abb. 10: Amerikanische Besuchergruppe in der Böttcherstraße 1929 (Foto: Atelier Schlegel, Bremen)
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Archiv Böttcherstraße Bremen

Die Runge & Scotland-Fassaden bildeten zusammen mit dem historischen Roselius-Haus die richtige Antwort auf die Erwartungshaltung vor allem der amerikanischen Gäste. Während die historischen Bauten der alten Stadt mehr und mehr verschwanden, entstand an der Böttcherstraße das Modell der Altstadt. Heutiger Lesart folgend könnte man meinen, Roselius habe zielgerichtet einen Vergnügungspark geschaffen, ein 1:1-Altstadt-Legoland. Eine Anregung von 1923,Vorschlag von Stadtbaurat Hoffmann in seinem am 24.6.1923 abgegeben Gutachten zur Bebauung der Böttcherstraße. In: Verhandlungen zwischen dem Senat und der Bürgerschaft ..., a.a.O.  doch »Ältere, von abgebrochenen Gebäuden herrührende Architektur- und Skulpturteile an den Fassaden« zu verwenden, wurde von Roselius nicht aufgegriffen. Das Authentische störte nur den kalkulierten Gesamteindruck. Doch die Ziele, die Roselius mit dem Stadtmodell verfolgte, gingen über die Förderung des Fremdenverkehrs hinaus. Die Böttcherstraße war immer mehr als ein Erlebnispark für Touristen. Zum einem wollte Roselius nach Versailles gerade den Fremden (den Amerikanern) ein neues, stolzes Deutschland zeigen. »Die Böttcherstraße ist der Versuch, deutsch zu denken«,Ludwig Roselius. Reden und Schriften zur Böttcherstraße in Bremen. Bremen 1932, S. 19 (geschrieben 1926). wie er 1932 schrieb (und man mag hinzufügen: »sowie ein Versuch, amerikanisch zu handeln«). Und: »So ist denn die Wiedererrichtung der Böttcherstraße nur ein Wille, nur ein Streichholz, das verbrannt wird, um eine neue und größere Zeit für Deutschland zu erwecken.«Ludwig Roselius, »Zur Neugestaltung der Alten Böttcherstraße«. In: Reden und Schriften, a. a. O., S. 16. Die wiederaufgebaute Straße sollte als Beweis der hoch stehenden deutschen Kultur verstanden werden, als Widerlegung der dem Ausland zugeschriebenen Ansicht, dass Deutschland handlungsunfähig und kulturlos am Boden liege. Die Böttcherstraße lässt sich als politisches Symbol interpretieren.

Zum anderen wollte Roselius mit der Böttcherstraße Reformideale der Vorkriegszeit propagieren, diese Ideale gerade den Fremden nahe bringen: Bewahrung alter Architekturformen, Wiederbelebung der Handwerkstraditionen, Propagierung gesunder Lebensformen, Förderung einer heimatlichen Kunst. Die Böttcherstraße war nach Roselius` Verständnis ein Kulturprojekt für Bremen – vergleichbar mit dem Aufbau des Kölner Doms oder der Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Das Alte sollte nicht in seiner Werkauthentizität, sondern als idealer Typus bewahrt werden.

Schon in ihrer frühen Konzeption geriet die Böttcherstraße zu einem Ort, an dem Massentourismus mit politischen Intentionen, an dem Heimatkunst mit weltumspannenden, mit »amerikanischen« Marketingstrategien vermengt wurde. Dieses nur schwer auseinander zu ordnende Gemenge von politischer und ästhetischer Absicht begründet den singulären Charakter der Straße. Die enge Verknüpfung von ganz unterschiedlichen Qualitäten und Ansprüchen ließ Architektur und Nutzung der Straße jedoch angreifbar werden. Die einzelnen Qualitäten drohten, sich gegenseitig zu relativieren. Konnten HAG-Propaganda und die Propagierung einer Weltanschauung nebeneinander bestehen?

Die erste Krise, die die Böttcherstraße zu überstehen hatte, begann bereits 1925. Die vorgesehene Straßengestaltung, die noch in den Jahren der Konzeption 1922 bis 1924 eine verbreitete Wiederaufnahme der Vorkriegs-Avantgarde repräsentierte, geriet mit dem Aufkommen von Neuer Sachlichkeit auf der einen und neoklassizistischer Schlichtheit auf der anderen Seite ins ästhetische Abseits. Es ist durchaus unbeabsichtigt, dass die Reisenden in der Böttcherstraße plötzlich kein Monument des »Neuen Deutschland« entdeckten, sondern vielmehr eine scheinbar liebevoll restaurierte alte Gasse. Noch vor der Eröffnung der Straße musste allen Beteiligten deutlich werden, dass die Straße kein Bestandteil der Avantgarde war. Vielmehr verkörperte sie bereits das Vergangene, das Verlorene. Zwischen den kunstgewerblichen Gegenständen, zwischen HAG-Probierstube und Künstler-Kneipe ließen sich die sozialen Probleme der ausgehenden 20er Jahre nicht lösen: Verarmung, Wohnungsnot und politische Radikalisierung. Die Böttcherstraße drohte als ein beliebiger Handwerkerhof bedeutungslos zu werden. Die Marginalisierung der Vorkriegs-Ideale spätestens ab 1925 betraf nicht allein die Böttcherstraße, nicht allein die Runge & Scotland-Architektur, sie betraf fast durchgehend alle Architekten, die vor 1914 für eine umfassende Architektur- und Lebensreform eingetreten waren, sie betraf beinahe eine ganze Generation. Hugo Wagner, Roselius’ Architekt der ersten Stunde, verließ bereits 1914 Bremen. Sein Nachkriegswerk ist weitgehend unbekannt. Er schaffte es nicht, seine engagierten Bemühungen um eine Architekturreform nach dem Krieg fortzusetzen oder gar zu intensivieren. Heinz Stoffregen, der bekannteste Bremer Reformarchitekt, der vor 1914 nicht nur von Gropius als Moderner gelobt wurde, gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu den konservativen, rückwärtsgewandten Architekten. Seine behutsamen Versuche, das Neue Bauen in sein Werk einfließen zu lassen, änderten daran nichts. 1928 trat Stoffregen dem »Block« bei, der Sammelbewegung der Konservativen. Und auch die Böttcherstraße passte bis 1925 in den Rahmen des Blocks – sie war nun Ausdruck einer mal wertkonservativen, mal kämpferisch konservativen Unterströmung in der Architektur der Weimarer Zeit. Diese Festlegung auf die Seite der Fortschritt-Bremser, der Kultur-Pessimisten und der Fatalisten – »der Untergang des Abendlandes« – konnte Roselius nicht behagen. Er hätte das Problem lösen können, in dem er beispielsweise Ernst Becker, den einzigen Bremer Architekten des Neuen Bauens, oder auch Emil Fahrenkamp aus Düsseldorf, der seit 1925 auch in Bremen tätig war, beauftragt hätte. Die Böttcherstraße wäre dann ein zeitgemäßes Bauwerk geworden. Doch offensichtlich konnte sich Roselius im altstädtischen Rahmen mit der neuen Architekturrichtung nicht anfreunden. Er interessierte sich zwar für Ludwig Mies van der Rohe und seinen Barcelona-Pavillon- den er sogar kaufen wollteBrief von Roselius an Jäckel vom 10.3.1929. –, doch im Kontext der Bremer Altstadt konnten diese Lösungen nicht überzeugen. Roselius wollte gerade die Brücke zwischen (mittelalterlicher) Vergangenheit und zukünftiger idealer Gesellschaft architektonisch ausbilden. Die Historie musste Thema der Architektur sein. Aber nicht irgendeine Geschichte, sondern ein Urmythos. In den Hoetger-Häusern sollte und musste die Brücke von der ersten Ur-Architektur zur Moderne geschaffen werden. Der betuliche, biedermeierliche Heimatschutz war durch Radikalisierung zu überwinden! Hoetger sollte mit dem Paula-Becker-Modersohn-Haus ein Fanal des neuen Deutschland schaffen (Abb. 11). Dabei hob Roselius hervor, dass Hoetger nicht bloß einen Stil interpretiere, sondern dass er völlig »auf den Schöpferinstinkt des Menschen«Ludwig Roselius: Reden und Schriften, a. a. O., S. 24 (»Wie das Paula-Becker-Modersohn-Haus entstand«, 1926). zurückgehe, auf die Ursprünge also.

Abb. 11: Bremen, Böttcherstraße, Paula Becker-Modersohn-Haus nach Nordosten um 1935 (Foto: Stickelmann)
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Archiv Böttcherstraße Bremen
Abb. 12: Bremen, Böttcherstraße, Haus Atlantis von Südwesten um 1935 (Foto Stickelmann)
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Archiv Böttcherstraße Bremen

Eine weitere Steigerung erfuhr die Böttcherstraße durch das 1931 fertig gestellte Haus Atlantis – ein Tempelbau für die Weltanschauung von Ludwig Roselius (Abb. 12). Hier wollte er zeigen, dass nirgendwo anders als in Deutschland der Ursprung der modernen Zeit liege, der Ursprung von britischer Zivilisation und amerikanischem Fortschrittsgeist. Das Gebäude erscheint in seiner eigenartigen Verbindung von Modernität (Rasterfassade, Stahlkonstruktion) und Sakralität (Treppenaufgang, Himmelssaal, »Lebensbaum«) durchaus als treffender Ausdruck der unterschiedlichen architektonischen, politischen und philosophischen Konzepte der Weimarer Republik. Im Gegensatz zu den modernen, scharf geschnittenen Bauten der Zeit – in Bremen beispielsweise die Bauten von Emil Fahrenkamp – betonte das Haus Atlantis die Entwicklung: vom bremischen Boden zum Himmel, von der vorchristlichen Vergangenheit zur Zukunft.

Die Aussage des Gebäudes stieß um 1930 auf Unverständnis. Die modernen Architekten feierten zu dieser Zeit die Bauten, die sich von Boden und Geschichte loslösten, die wie Schiffe bindungslos durch den Raum glitten. Automobile, D-Züge und Dampfschiffe waren die Vorbilder. Die Modernen erkannten in der Böttcherstraße ein überflüssiges Festhalten an alten, historischen Bindungen. Die Konservativen wiederum, zu ihnen gehörte Rudolf Alexander Schröder, vermissten in den Hoetger-Bauten die kompensatorische Behaglichkeit, vermissten das Alternativ-Konzept zur kalten Sachlichkeit der Moderne. Vor allem das Haus Atlantis stand um 1931 zwischen allen Stühlen der Architektur. 

Allein Einzelfälle können angeführt werden, um eine Einbindung in einen architekturhistorischen Kontext zu leisten. Zu nennen sind vor allem die Visionen von Bruno Taut, der 1914 auf der Kölner Werkbundausstellung einen Glaspavillon errichtet hatte, der in seiner lichtdurchfluteten Glasbaustein-Architektur wie ein unmittelbares Vorbild von Himmelssaal und Atlantis-Treppenhaus erscheint (Abb. 13). Zu nennen sind auch Tauts Stadtkrone-Visionen kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Über den Dächern der Städte sollten sich tempelartige Paläste erheben – Häuser des Volkes. Der Himmelssaal wirkt wie eine iniaturisierte Umsetzung der Stadtkrone – überragt zwar von anderen Gebäuden, dem Himmel jedoch nah.

Abb. 13: Werkbundausstellung Köln 1914, Glashaus von Bruno Taut
Quelle
Jahrbuch des deutschen Werkbundes 1915

Die wenigen Vergleichsbeispiele zur Böttcherstraßen-Architektur lassen sich im Wesentlichen vor 1914 und, nach dem Krieg, in der expressionistischen Phase bis 1924 finden. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre hingegen bildet die Böttcherstraße ein weitgehend singuläres, eigenständiges Werk, das von Moden und Richtungen unbeeinflusst scheint. Allein die Bauten von Fritz Höger, in Delmenhorst vor den Toren Bremens errichtet, scheinen ähnlichen Zielen zu folgen wie die Hoetger-Bauten. Auch Höger schuf Sakralbauten, die die Verbindung zwischen Ursprung und Gegenwart mittels Architektur schaffen sollten, so die beiden Friedhofskapellen in Delmenhorst.Vgl. Deutscher Werkbund Nord (Hg.), Fritz Höger. 1877-1949. Außen vor, der Backsteinbaumeister. Oldenburg 1999. In der Böttcherstraße kumuliert die Weltanschauung von Ludwig Roselius. Während das Architekturprogramm bis 1925 den Strömungen der Zeit entsprach, entfernte sich die Architektur anschließend vom Mainstream. Hoetger realisierte ab 1925 einen späten Expressionismus, der zwar nicht ohne Beispiel war, der aber zumindest in Bremen alleine steht.