Nr. 8-10 Paula Becker-Modersohn Haus
Nr. 8-10 Paula Becker-Modersohn Haus
 
Es ist ein spektakuläres und geradezu programmatisches Gebäude, das eine zweite, auf Modernität ausgerichtete Neugestaltungsphase der Böttcherstraße einleitete und auch 100 Jahre nach seinem Bau in dem ihm zugedachten Zweck funktioniert: als weltweit erstes Museum, das dem Werk und Andenken einer Malerin gewidmet ist.
Auf einen Blick
benannt nach der bekannten Künstlerin Paula Modersohn-Becker
Bauzeit: 1926 bis 1927, 1944 bis auf die Umfassungsmauern zerstört, bis 1954 wiederaufgebaut
Architekt: Bernhard Hoetger
Nutzung: Ladengeschäfte und Kunsthandwerkstätten im Erdgeschoss, Museum (Obergeschosse)
Abb. 1
Mehr begehbare Skulptur als Haus, so präsentiert sich das erste Museum, das dem Werk einer Malerin gewidmet ist.

Idee und Baugeschichte

Die Verbindung von Bauherr und Architekt, von Ludwig Roselius und Bernhard Hoetger, war in beider Biografien einzigartig, ihrem Zusammenwirken ist letztlich das neue Gesicht der Böttcherstraße zu danken. Wiederholt erklärte Roselius öffentlich, dass niemand außer Hoetger das Paula Becker-Modersohn Haus hätte bauen können, es war die erste architektonische Bewährungsprobe für den nahezu idealen Freundschaftspakt zwischen einem Künstler und seinem Mäzen (Abb. 2). Bei Einweihung des Gebäudes war er stolz auf seine Investition und das Vertrauen in die Arbeit des Bildhauers. „Daß keiner außer Hoetger dieses Haus bauen konnte, wird heute, da alles vollendet ist, jedem klar werden, der sich mit Paula Modersohn-Becker eingehend beschäftigt hat.“Ludwig Roselius, Rede zur Einweihung des Paula-Becker-Modersohn-Hauses am 2.6.1927. In: Walter Müller-Wulckow, Das Paula-Becker-Modersohn-Haus, Bremen 1930, S. 7.

Abb. 2: Roselius und Hoetger im Himmelssaal
Bernhard Hoetger und Ludwig Roselius im Himmelssaal des Haus Atlantis um 1932 in klassischer Pose als Künstler und Mäzen.

Bereits im Frühjahr 1924 schilderte Ludwig Roselius in einem Brief an HoetgerLudwig Roselius, Brief vom 7. März 1924. sein Vorhaben der Errichtung eines Hauses in Bremen, das dem Andenken der Künstlerin gewidmet sein sollte, ein eher bescheidenes Gebäude in Kombination mit einer Methalle. Im Verlauf des Jahres aber veränderte sich sein Plan, als er beschloss, die linksseitig dem Roselius-Haus vorgelagerten historischen Gebäude weitgehend abzureißen und den Platz für „ein großes Gebäude“ zu schaffen. „Vielleicht kann ich meine ganze Paula-Becker-Modersohn-Sammlung irgendwo unterbringen.“ Ludwig Roselius an Bernhard Hoetger, 10. Dezember 1924. Die historische Bebauung des Areals bestand aus vier kleinen, von Handwerkern bewohnten Giebelhäusern (Abb. 3) in der Böttcherstraße und den zwei Häusern Hinter dem Schütting 9 und 10 (Abb. 4), darunter die Branntweinbrennerei Schröder mit Schankwirtschaft und einem Tanzsaal im Obergeschoss. Umfassungsmauern und Dach dieses Hauses blieben erhalten, aus der Wirtschaft wurde die Kneipe „Zu den Sieben Faulen“, aus dem Tanzsaal ein Ausstellungsraum mit Oberlicht. Roselius rückblickendLudwig Roselius, Brief vom 18. September 1936, Staatsarchiv Bremen. : „Das Paula Becker-Modersohn Haus ist und war niemals ein einheitliches Gebäude. Als es errichtet wurde, hatte ich nicht Geld genug, um einen Neubau auszuführen. Es mußten deshalb vier alte Gebäude umgeändert werden, und so entstand dann dieses außerordentlich romantische Gebilde.“

Hoetgers heikle Bauaufgabe bestand darin, Teile der Altbauten in die neue Architektur zu integrieren und auf dem schmalen Grundstück (Abb. 5), das nach Südosten durch Rückseiten der Geschäftshäuser der Wachtstraße begrenzt war, ein viergeschossiges und multifunktionales Ausstellungshaus zu errichten, das ungeachtet der Enge als signifikantes Werk bestehen und wirken konnte.

Wie alle anderen neuen Bauten in dieser Straße, so hatte das Paula Becker-Modersohn-Haus (Abb. 6) mehrere Zweckbestimmungen zu erfüllen, auf die der architektonische Entwurf ausgerichtet sein musste: ein musealer Teil zur Aufnahme der Roselius-Sammlung wurde in die oberste Etage verlegt, darunter befanden sich auf zwei Etagen größere Ausstellungsbereiche für die „Bremer Kunstschau“, und im Erdgeschoss, um einen Lichthof verteilt, lagen die kunsthandwerklichen Werkstätten „Zu den sieben Faulen“, der Verkaufsraum der „Werkschau“ und die Künstlerkneipe. Alle Bereiche bestanden unabhängig voneinander, waren aber räumlich miteinander durch das innere Labyrinth verbunden. Das Gebäude gewährt keine klassische Ansicht, es ist in den Proportionen nur schwer, in seiner Gesamtheit gar nicht fassbar. Auf schmalem Baugrund schaffte es Hoetger, ein im Erschließen sehr viel weitläufiger anmutendes Gebäude zu erstellen, als es in Wirklichkeit ist. Die Entwürfe knetete er in Ton, heraus kam eine Großskulptur mit einem reichhaltigen Innenleben. Architektur verstand er als extensive Bildhauerei, die deren Regeln näher steht als den Gesetzen der Statik. Um das Funktionale hat er sich erst in zweiter Linie gekümmert, um den Baukörper nur im Entwurf. Die Maurer waren oft mit dem in Ton gekneteten Modell alleingelassen; stürzte eine Mauer ein, wurde von neuem begonnen. Heinrich Schmidt-Barrien beschreibt,Heinrich Schmidt-Barrien, Von der Bremer Böttcherstraße, Bremen o. J., S. 26. „daß hier mehr modelliert, geknetet und in geheimnisvoller Weise auch metallische Traumgebilde geformt wurden, als gebaut und gemauert in herkömmlicher Weise.“

Die Arbeiten begannen im Frühjahr 1926, erhaltene Außenmauern wurden mit einer neuen Fassade (Abb. 7) verblendet. Bereits im Herbst konnte die Künstlerkneipe „Zu den sieben Faulen“ (Abb. 8) eröffnet werden, ausnahmslos mit Möbeln nach Hoetgers Entwürfen (Abb. 9) bestückt. Im Frühjahr 1927 war das komplizierte Gebäude, das sich keinem Stil verpflichtete und kaum Ähnlichkeiten zu vorhandenen Bauten aufweist, fertiggestellt, die Eröffnung folgte bereits am 2. Juni, zu Roselius‘ Geburtstag. Von diesem Tage an aber war das Haus nicht mehr nur eine Attraktion für die Hansestadt, sondern ein Propagandazentrum für die Entwicklung einer neuen „nordischen Kultur“. „Noch ein solches Haus und noch eins, und eine neue Richtung ist entstanden – bahnbrechend, wurzelecht, nordischstark.“Ludwig Roselius bei der Einweihung des Hauses am 2. Juni 1927, a. a. O.

Abb. 7
Fassade des Paula-Becker-Modersohn-Hauses an der Straße Hinter dem Schütting, links der Eingang zur Künstlerkneipe ‚Zu den SiebenFaulen‘.
Quelle
Stickelmann (Foto, zwischen 1936 und 1944)

Der Bau – mehr begehbare Skulptur als Architektur

Die Verbindung von freien und angewandten Künsten, von Architektur, bildender Kunst und Handwerk war weniger ein Tribut an das zeitgleich in Dessau wirkende Bauhaus als vielmehr Referenz an die Gotik und ihre Bauhütten. Hoetger wollte nicht eine statische Ruhe und Ausgewogenheit, sondern sah den Baukörper als organisches Gebilde, machte den Grundriss wie alle darauf aufbauenden Formen, bis hin zu den Flächendekoren der Ziegelfassade, auf der das Sonnenlicht spielt, nur als Bewegung – und in der Bewegung des Nutzers – begreifbar. Der Eingang (Abb. 10) erscheint wie eine „bocca“, ein „gewölbter Gaumen“W. Müller-Wulckow, a .a. O., S. 22. im diffusen Licht einer Höhle (Abb. 11), die den Eintretenden in die besondere, halb mystische Atmosphäre des ‚geweihten‘ Baukörpers aufnimmt. „Es gibt niemanden, auf den die suggestive Anziehungskraft dieses Eingangs nicht wirkte.“W. Müller-Wulckow, a .a. O., S. 23. Das Rationale verliert hier seine Rechte, es geht um eine magische Raumerfahrung, die dem Erleben einer erhabenen Kunst vorgelagert ist. Entsprechend verlegte Hoetger den Zugang zum Ausstellungsbereich (Abb. 12) an das Ende einer gewundenen Treppe in das erste Obergeschoss, über die auch die Dachterrasse über dem Lichthof und die sog. „Friesenstube“ zu erreichen waren. Angrenzend an das Roselius Haus gab es hier noch zwei Ateliers für bildende Künstler, eines davon zeitweise von Ernst Müller-Scheeßel, ein anderes von der Tochter Irmgard Roselius benutzt. Über eine seitlich aus dem großen Ausstellungsraum im ersten Stock geführte Holztreppe (Abb. 16) gelangte man in den zentralen Turm, über dessen Wendeltreppe (Abb. 17) dann in die Redaktionsräume der Zeitschrift „Die Böttcherstraße“ (Abb. 18) im zweiten und den Paula Modersohn-Becker-Saal (Abb. 20 und 21) im dritten Stock. Diese Treppe, so Müller-Wulckow,W. Müller-Wulckow, a .a. O., S. 25. „veranschaulicht suggestiv die sicher emporsteigende Kraft, mit der jene ungewöhnliche Künstlerin aus dem engen Bezirk und dem gewohnten Niveau landläufiger Kunst emporwuchs.“ Als zentrale Achse des organischen Gebildes ist der Treppenturm (Abb. 22) herausgestellt und mit einer kupfernen Helmhaube versehen, unter der ursprünglich noch eine alte Leuchtreklame für Kaffee HAG angebracht war. 

Über den Zugang zur Böttcherstraße von der Marktseite aus führte Hoetger eine Brücke, die die beiden Straßenhälften miteinander verbindet und den Komplex Böttcherstraße als einheitliches Gebilde nach außen hin abschloss. Über dem Durchgang war ein plastisches Backsteinrelief (Abb. 13) mit einem Glasfenster angebracht, das bei Dunkelheit beleuchtet wurde; „am Abend magisch erhellt, ein rätselhaftes, Neugier weckendes Gebilde aus dem düsteren, nach Süden führenden Straßenspalt auf. Das Phantastische und Ungewisse lockt unwiderstehlich an. Besser als irgendein Firmenschild oder Wegweiser bildet die Überbrückung (Abb. 14) des Eingangs den Auftakt und das Tor zur neuen Böttcherstraße.“W. Müller-Wulckow, a .a. O., S. 21. Nach Anbringung des vergoldeten „Lichtbringers“ 1936 ging die ursprüngliche Gestaltung der Zugangsfassade verloren, Reste des kunstvollen Glasfensters sind nicht erhalten.

Hier können Sie sich einen Text zum Lichtbringer herunterladen:

Abb. 14
Innenseite des Glasreliefs auf der Brücke: Relief und Skulptur, Innen- und Außenwelt verschmelzen miteinander, 1936 umgebaut.
Quelle
Stickelmann (Foto)
Abb. 15
Das Paula-Becker-Modersohn-Haus total von der Böttcherstraße aus gesehen nach Nordosten.
Quelle
Rosteck (Foto, um 1980)

Das Paula Becker-Modersohn Haus als das unkonventionellste Gebäude in der Hansestadt nach dem Ersten Weltkrieg löste nicht nur viele unverständliche Reaktionen und z.T. negative Kritiken der Fachwelt aus, es leitete auch die ästhetische Rezeption der Böttcherstraße als eines allmählich wachsenden Gesamtkunstwerks ein, das in Deutschland keine Parallele hatte. So sehr es einen „nordischen Stil“ verkörpern sollte, fand das Haus auch im Werk Hoetgers keine Nachfolge, die virtuose Kunst der modernen Ziegelarchitektur, die er wie kein zweiter beherrschte, ging zu Ende. Als neue Baustoffe wurden für das ab 1929 entstehende Haus Atlantis Beton, Glas und Stahl bevorzugt. Dabei bestand der Auftrag an das Paula Becker-Modersohn Haus, in Wiederbelebung alter Traditionen das Fanal für ein neues Deutschland zu sein, die Gestaltung der Zukunft vorzubereiten, nicht nur im Bauwesen und in der Kultur, sondern in dem Zusammenwirken von Idee und Materie, von Geist und Werk. „Zwischen Materie und Geist stehend“, so Roselius bei Eröffnung des Hauses,Ludwig Roselius bei der Einweihung des Hauses am 2. Juni 1927, a. a. O. „sind wir Menschen von Gott bestimmt, Materie in Geist zu verwandeln. Solches ist der innerste und heiligste Zweck unseres Lebens.“

Ungeachtet seiner wechselvollen Geschichte und der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg ist das Paula Becker-Modersohn Haus immer ein Hort der schönen und angewandten Künste geblieben. Nach dem Wiederaufbau (Abb. 15) wurden die Handwerksbetriebe im Innenhof neu belebt, in die großzügigen Ausstellungssäle zogen Kunstgalerien und das Fotoforum ein, hier wurden alljährlich die Träger des „Kunstpreises Böttcherstraße“ ausgestellt. Der ehemalige Verkaufsraum der „Werkschau“ besteht unverändert als deutschlandweit bekannte Galerie für gehobenes künstlerisches Handwerk aus aller Welt. Schließlich und endlich aber fand das Haus zu seiner alten Zweckbestimmung zurück und wurde, als was es einst erdacht worden war: das Museum der Künstlerin Paula Modersohn-Becker.

Ludwig Roselius, Bernhard Hoetger und Paula Modersohn-Becker

Bernhard Hoetger hatte Paula Modersohn-Becker In der Kunstgeschichte wird die Malerin unter Paula Modersohn-Becker geführt, während Ludwig Roselius darauf bestand, bei der Bezeichnung des Hauses ihren Geburtsnamen voranzustellen. bei ihrem zweiten Aufenthalt in Paris kennengelernt, als sie im Frühjahr 1906 zu ihm kam. „Ich war ein bischen einsam.“Paula Modersohn-Becker an Bernhard Hoetger, Paris 5. Mai 1906. In: Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern, (Hrsg. G. Busch, L. von Reinken), Frankfurt am Main 1979, S. 443. Von den deutschen Traditionen der Malerei hatte sie sich längst losgesagt und begonnen, intuitiv der französischen peinture des Spät- und Nachimpressionismus näher zu kommen, insbesondere der Bildsprache Paul Gauguins. Hoetger erkannte ihr großes Talent und förderte sie in ihrer Selbständigkeit, er wurde in der künstlerisch bedeutendsten Phase ihrer Entwicklung Freund und Begleiter – und einer der ersten Kollegen, die ihre Arbeit wirklich anerkannten. „Sie haben mir Wunderbarstes gegeben. Sie haben mich selber mir gegeben. Ich habe Mut bekommen.“Paula Modersohn-Becker an Bernhard Hoetger, Paris 5. Mai 1906. In: Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern, (Hrsg. G. Busch, L. von Reinken), Frankfurt am Main 1979, S. 443.

Später folgte er ihren Spuren, zog 1916 nach Worpswede, empfand sich in ihrer direkten Nachfolge und errichtete nicht zufällig sein erstes Wohnhaus, ein zweiflügeliges schlossähnliches Gebilde, unmittelbar neben ihrem ehemaligen Atelier, dem Brünjeshof. Doch bald ging es nicht mehr nur darum, das Andenken an eine Freundin zu bewahren und ihr Werk zu ehren und zu sammeln, sondern die Malerin zu einer Ikone zu erheben, worin Roselius und Hoetger einander vollkommen einig waren. Sie begründeten gemeinsam den Mythos Paula, weil deren Kunst für beide nicht nur alles Zeitgenössische überwand, sondern ins Überzeitliche, Mythische hineinragte. So wurde sie zur Seherin und Hohepriesterin der Wahrheit stilisiert: „Paula ist die Malerin der Wahrheit. Vor ihr gab es niemals einen Maler, der die Wahrheit gemalt hat.“Ludwig Roselius bei der Einweihung des Hauses am 2. Juni 1927, in: ders.; Reden und Schriften zur Böttcherstraße in Bremen, Bremen 1932, S. 12. Bei Eröffnung des ihr gewidmeten Hauses vollendete Roselius Ludwig Roselius bei der Einweihung des Hauses am 2. Juni 1927, in: ders.; Reden und Schriften zur Böttcherstraße in Bremen, Bremen 1932, S. 12. ihre Apotheose: „Menschenliebe, wie sie der Heiland lehrt, machte sie unüberwindlich.“

Bauherr und Architekt sahen im Werk dieser Ausnahmekünstlerin einen nordischen Mythos wiedererwacht, dem sich nicht nur Hoetger in seinem Selbstverständnis verschrieben hielt, sondern der auch für Roselius allmählich zum bestimmenden Ziel der gesamten Böttcherstraße wurde, diesem „Streichholz, das verbrannt wird, um eine neue und größere Zeit für Deutschland zu erwecken.“Ludwig Roselius, 1926.

Text

Bernd Küster

Literatur

  • Nils Aschenbeck, Das Paula Becker-Modersohn Haus von Bernhard Hoetger, in: Projekt Böttcherstraße, Hrsg. H. Tallasch, Delmenhorst 2002, S. 157 ff.
  • Walter Müller-Wulckow, Das Paula Becker-Modersohn Haus, Führer und Plan, Bremen 1930.
  • Katharina Uhl, Januskopf Böttcherstraße, Kulturelle Erneuerung, gebaute Utopie und nationale Identität, Diss. Münster 2014